Siegen, Martinikirche

Orgel von Emanuel Kemper & Sohn (Lübeck), 1951 · Hans Peter Mebold (Siegen), 1981–2003.


© Gabriel Isenberg, 27.09.2004
© Gabriel Isenberg, 27.09.2004

Die heutige Baugestalt der Martinikirche in unmittelbarer Nähe des Unteren Schlosses in Siegen geht auf Umgestaltungsmaßnahmen einer spätromanischen Pfeilerbasilika in den Jahren 1511–17 zurück; sie ist damit heute die älteste Kirche der Stadt Siegen. Im Laufe des 16. Jahrhunderts verlor die ehemalige Pfarrkirche an Bedeutung und verfiel bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zusehends. In den Jahren 1833–38 wurde wie wiederhergestellt. Bei einer Renovierung 1911/12 wurden die Außenmauern mit Sichtmauerwerk freigelegt, im Innern erhielt die Kirche ein historisierende Ausmalung. Nachdem die Kirche im Zweiten Weltkrieg bis auf die Außenmauern zerstört worden war, konnte die Wiedereinweihung nach umfangreichen Aufbauarbeiten am 31. Oktober 1949 stattfinden. Weitere umfangreiche Renovierungs- und Umgestaltungsarbeiten erfolgten in den Jahren 1990/91. Als „lebendige Citykirche“ wird der Kirchenraum außer für gottesdienstliche Feiern auch für vielfältige kulturelle Veranstaltungen genutzt.

Die Orgelgeschichte der Martinikirche reicht bis ins 15. Jahrhundert zurück, als 1482 ein „barfusßer von fredeberg“ zur Orgelreparatur in Siegen war – jener aus Friedberg in Hessen kommende Orgelbauer dürfte dem Umfeld des berühmten Barfüßermönchs und Orgelbauers Leonhard Mertz aus Frankfurt zuzurechnen sein.

1515/16 erhielt die Kirche eine neue Orgel durch Thomas den „orgeller“, der in der Siegener Stadtrechnung auch als „Meister Thomas Laer“ bezeichnet wird. Spätestens 1581, als gemäß Erlass des Grafen VI. von Nassau-Dillenburg mit Einführung des reformierten Bekenntnisses alle Orgeln entfernt werden wollten, wird auch die Siegener Martinikirchen-Orgel abgebrochen worden sein.

Danach erhielt die Martinikirche nach ihrer Wiederherstellung erst 1837 wieder eine Orgel: ein neun Register umfassendes Instrument des Barmener Orgelbauers Adolph Ibach. Diese Orgel wurde wiederum 1892 durch einen Orgelneubau von Friedrich Ladegast (Weißenfels) abgelöst, der 16 Register auf zwei Manualen und Pedal bei pneumatischen Kegelladen erhielt. Die Ladegast-Orgel wurde am 16. Dezember 1944 zusammen mit der Kirche vollständig zerstört.

In der nach dem Krieg wiederaufgebauten Kirche konnte am 1. Advent 1951 eine neue große Orgel der Fa. Emanuel Kemper & Sohn aus Lübeck eingeweiht werden – damals eine der ersten größeren Nachkriegsorgeln im nordrheinwestfälischen Raum. Das von dem Siegener Organisten und Organologen Helmut Winter (1926–1983) mit konzipierte Instrument stand zwar technisch mit dem elektropneumatischen Taschenladensystem noch in der Tradition des Vorkriegsorgelbaus, nahm aber in seiner Disposition schon deutliche Bezüge auf den Barockorgelbau, der sich besonders in vielen obertonbetonten Register manifestierte. 1973 nahm die Erbauerfirma eine Reinigung und Nachintonation vor, bei der auch die Jalousien des Brustwerks an einen Schwelltritt üblicher Bauart angeschlossen wurden.

In den 1980er Jahren begannen Planungen zu einer grundlegenden Renovierung der Orgel, die aufgrund des schlechten Nachkriegs-Materials mit Problemen zu kämpfen hatte, zugleich aber als Denkmal einer wichtigen Übergangsphase des Orgelbaus im Kern erhalten bleiben werden sollte. Dabei sollte vor allem auch das erstaunlich präzise funktionierende Taschenladen-System als Dokument der Zeit erhalten bleiben. Dazu entwickelten der Orgelsachverständige der Westfälischen Landeskirche Martin Blindow, Orgelbaumeister Hans Peter Mebold (Siegen) und Kirchenmusikdirektor Ulrich Stötzel das Konzept einer stufenweisen Renovierung, das in den Jahren 1981 bis 2003 nach und nach umgesetzt wurde. Dieses Konzept umfasste vier Schwerpunkte:

1. Sanierung bzw. Erneuerung der Technik in und an den Windladen sowie des Windsystems;

2. Verbesserung der Klangabstrahlung durch Einbau von Teilgehäusen in Hauptwerk und Rückpositiv sowie neuer klangdurchlässiger Gittertüren an den Pedalseiten;

3. Anschaffung eines neuen flexiblen Spieltisches nach BDO-Norm, der das Musizieren der Orgel zusammen mit Chor und Orchester ermöglicht;

4. weitgehender Austausch des Pfeifenmaterials bei gleichzeitiger Umdisponierung und Neuintonation nach „aktuellen“ Maßstäben.

Die Maßnahmen erfolgten im Wesentlichen in drei großen Bauabschnitten (1981; 1985–87; 1995 neuer Spieltisch) durch die Siegener Orgelbauwerkstatt Hans Peter Mebold, mit Ergänzungen bis 2003. Mit großem Engagement begleitete KMD Ulrich Stötzel, bis Sommer 2019 46 Jahre lang Kantor an der Martinikirche, die Maßnahmen. Der musikalische Schwerpunkt, der auch mit dem von ihm 1973 gegründeten, international renommierten Bach-Chor Siegen auf die Musik der großen Barockmeister ausgerichtet ist, spiegelt sich im Klangkonzept der Martinikirchen-Orgel wider, deren „neue“ Disposition und Intonation sich an norddeutschen Vorbildern (z. B. Arp Schnitger) orientieren, wenngleich der erweiterte Registerfundus auch die Interpretation von Musik anderer Epochen adäquat ermöglicht.

Die Orgel füllt einen Großteil des Chorraums aus und passt sich mit ihrem offenen Gehäuse dezent in die Raumarchitektur ein. Haupt- und Schwellwerk vor dem großen Fenster werden zu beiden Seiten vom Pedalwerk flankiert. Weiter vorgerückt ist das freistehende Rückpositiv. Der fahrbare Spieltisch steht meistens links neben dem Rückpositiv und ist über ein Glasfaserkabel mit der Orgel verbunden. Im Spieltisch sind die Registerzüge terrassenförmig links (Labialregister) und rechts (Mixturen, Zungen, Koppeln) neben den Manualen angeordnet. Durch eine die 1995 neuartige Magnet-Druckpunkttechnik (Laukhuff) entsteht trotz der rein elektrischen Verbindung zu den pneumatischen Taschenladen ein angenehmes, sensibles Spielgefühl.

I. RÜCKPOSITIV | C–g³

Bordun 8’

Quintade 8’

Prinzipal 4’

Rohrflöte 4’

Nasat 2 2/3’

Gemshorn 2’

Quinte 1 1/3’

Sesquialtera 2f.

Scharf 3f.

Krummhorn 8’

Tremulant

Koppel III–I

II. HAUPTWERK | C–g³

Pommer 16’

Prinzipal 8’

Holzflöte 8’

Oktave 4’

Blockflöte 4’

Quinte 2 2/3’

Oktave 2’

Mixtur 4f.

Trompete 8’

Tremulant

Koppel III–II

Koppel I–II

Subkoppel II

III. SCHWELLWERK | C–g³

Traversflöte 8’

Gambe 8’

Schwebung 8’

Gemshorn 4’

Querpfeife 2’

Zimbel 3f.

Fagott 16’

Oboe 8’

Trompete 4’

Tremulant

Subkoppel III

PEDAL | C–f¹

Untersatz 32’

Prinzipal 16’

Subbass 16’

Oktave 8’

Gedeckt 8’

Oktave 4’

Nachthorn 2’

Mixtur 5f.

Posaune 32’

Posaune 16’

Trompete 8’

Koppel III–P

Koppel II–P

Koppel I–P


Elektronische Setzeranlage (2x12x8x8) mit Sequenzern, Nulltaster und frei einstellb. Registercrescendo (Setzer frei und abschließbar), Digitalanzeigen f. Setzeranlage und Registercrescendo; fahrbarer Spieltisch.

Elektropneumatische Taschenlade.

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D-57072 Siegen | Grabenstraße 27


Quellen und Literatur: Hermann J. Busch, Die Orgeln des Kreises Siegen, Berlin 1974, S. 150-153 ⋄ Bernhard Burbach, Zur Geschichte des Orgelbaus im Kr. Siegen seit 1973, Examensarbeit, Siegen 1982, S. 109 ⋄ Gabriel Isenberg, Frühr Orgelgeschichte von Siegen und Wittgenstein bis zum 17. Jahrhundert, in: Siegerland. Blätter des Siegerländer Heimat- und Geschichtsvereins e. V. 92 (2015), S. 49–64 ⋄ Gabriel Isenberg, Orgellandschaft im Wandel (Teil 2): Orgelinventar des Kreises Siegen-Wittgenstein von den Anfängen bis 1945, in: Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde 98 (2020), S. 83–225 ⋄ Die Orgel der Martinikirche [Faltblatt], Siegen 1998 ⋄ Eigener Befund.

Nr. 70 | Diese Orgel habe ich zum ersten Mal am 26.08.1999 gespielt und danach mehrfach bei Konzerten und anderen Veranstaltungen.
© Dr. Gabriel Isenberg | Letzte Änderung: 15.01.2025.